Flugangst
Snorre hatte vor Kurzem einen Brief vom Wichtelpostamt erhalten: Schon bald durfte er als Weihnachtswichtel zu einer kleinen Familie nach Italien kommen. Die wünschte sich für die Adventszeit einen lustigen, kleinen Wichtel wie Snorre. Die Freude war riesengroß. Doch was Snorre Kopfzerbrechen bereitete war: In dem Brief stand auch, dass er zuerst Flugunterricht nehmen musste. Und ein Prüfungstermin für den Pilotenschein war auch schon für Snorre eingetragen.
Du musst wissen, dass das zur Ausbildung eines jungen Wichtels gehört. Bevor er zum ersten Mal zu den Menschen reisen darf, muss er fliegen lernen. Denn die Reise auf den Vögeln ist wichtig, damit die Wichtel schneller ans Ziel kommen.
Normalerweise lieben es die Wichtel, auf Vögeln durch die Gegend zu fliegen. Doch Snorre hatte ein bisschen Angst davor. Am liebsten wäre er am Boden geblieben und nur mit dem Zug gefahren. Oder allerhöchstens auf Katzen geritten. “Höhenangst”, hatte sein Freund Kalle es mal genannt.
“Komm, wir üben ein bisschen”, schlug Kalle ihm vor. Und wollte mit ihm auf einen Baum klettern. Doch dem armen Snorre wurde es schon nach den ersten paar Zentimetern Angst und Bange. Er wollte ganz schnell wieder festen Boden unter den Füßen haben.
Kalle probierte es immer und immer wieder, Snorre seine Angst vor der Höhe und vorm Fliegen zu nehmen. Im Schwimmbad vom 1-Meter-Brett in das Becken springen – doch keine Chance, Snorre klammerte sich ganz fest an Kalle und begann bitterlich zu weinen.
Sich auf einen Balkon stellen und die Gegend beobachten. Auch das schaffte Snorre nicht. Er wusste schon, warum er im Erdgeschoss wohnte – ein Balkon konnte schließlich doch einbrechen. Und dann?
Sogar Trampolin hüpfen machte Snorre Angst. Immerhin war er da für den Bruchteil einer Sekunde ganz schön hoch in der Luft – und musste von da oben wieder runter. Und sobald er unten angekommen war, ging es ja sofort wieder rauf. Nein, nein. Er verstand beim besten Willen nicht, wie andere Wichtel das als Freizeitvergnügen sehen konnten. Ihm machte diese Hüpferei nur Bauchweh.
“Hm… was machen wir nur mit dir?” überlegte Kalle.
Schließlich machte er sich am Abend auf den Weg zur Zaubertrankwichtelin Mette. Er wollte sie um Rat fragen. Und tatsächlich! Mette versprach ihm, einen so starken und mächtigen Zaubertrank für seinen Freund Snorre zu brauen, dass dieser nie wieder Angst vor der Höhe hatte.
Und dass er seine Flugstunden nicht nur angstfrei, sondern sogar mit der allergrößten Freude machen konnte.
Er sollte Mette nur drei Tage Zeit geben, dann wäre der Zaubertrank fertig. Denn die geheimen Zutaten mussten bei Vollmond im Elfenzauberwald gepflückt und der Zaubertrank mitten in Mettes Garten bei Mondenschein gebraut werden. Wie gut, dass bis zur ersten Flugstunde noch ein bisschen Zeit war!
Drei Tage später holte Kalle den Zaubertrank bei Mette ab.
“Eine Sache muss ich dir aber noch sagen, Kalle. Dein Freund Snorre darf auf keinen Fall wissen, dass er einen Zaubertrank bekommt. Denn sonst wirkt er leider nicht. Am besten mischst du ihm den Trank in seinen Tee oder Kakao am Abend vor der ersten Flugstunde. Der Trank wirkt dann über Nacht. Am nächsten Morgen wird Snorre erholt und voller Tatendrang aufwachen und sich gar nicht mehr daran erinnern können, dass er jemals Höhen- oder Flugangst hatte. Vertrau mir. Alles wird gut.”
Kalle nickte und überlegte auf dem Heimweg, wie er Snorre den Trank unterjubeln konnte, ohne dass dieser es merkte. Und dann hatte er eine Idee.
Eine Woche später – es war einen Tag vor Snorres erster Flugstunde – lud Kalle seinen Freund zum Abendessen ein.
Er hatte leckeren Grießbrei mit viel Zucker und Zimt vorbereitet, Snorres Lieblingsgericht. Dazu gab es Pflaumenmus und Apfelkompott.
Und als Nachtisch… “Snorre, ich hab einen neuen Tee zum Ausprobieren für dich. Er wird dir schmecken. Man muss sich nur ein bisschen an den bitteren Geschmack gewöhnen, aber dann schmeckt er ganz fabelhaft!” sagte Kalle und stellte seinem Freund einen großen Becher dampfenden Tee hin. Natürlich war der Tee kein einfacher Tee, sondern mit dem Zaubertrank vermischt. Aber das durfte Snorre ja nicht wissen.
“Ach, Kalle, ich bin so aufgeregt wegen morgen. Meine erste Flugstunde steht an und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich das schaffen soll. Bestimmt bekomme ich heute Nacht kein Auge zu. Vielleicht muss ich einen anderen Wichtel zur Familie in Italien schicken. Vielleicht muss ich einfach für immer im Wichteldorf bleiben und kann niemals eine Familie besuchen,” seufzte Snorre.
“Nein, nein, mein Freund, das ist doch Quatsch! Jetzt trink erstmal deinen Tee und dann hau dich aufs Ohr. Du wirst sehen, alles klappt ganz wunderbar morgen,” meinte Kalle. Snorre nahm seine Tasse und trank den ersten Schluck: “Hm… schmeckt wirklich ein bisschen komisch, dein Tee.” In seinem Bauch breitete sich eine wohlige Wärme und eigenartigerweise ein kleines bisschen Hoffnung aus, dass die Flugstunde doch gar nicht so furchtbar werden würde. Also sagte Snorre: “Aber gar nicht mal so schlecht!”
Schnell trank er die ganze Tasse aus. Dabei wurde ihm immer wärmer und wärmer. Der Tee schien seine Sorgen wie eine dicke Decke zudecken. “Ich bin plötzlich ganz müde. Ich glaube, das macht der warme Tee und der volle Bauch. Ich leg mich am besten hin, damit ich morgen fit bin.” meinte Snorre.
Und er schlief ganz wunderbar und hatte einen schönen Traum, in dem er fliegen konnte. Und gar keine Angst dabei hatte. Er breitete seine Flügel aus, die ihm auf wundersame Weise gewachsen waren, und glitt über das Wichteldorf, sah die ganze Wichtelwelt von oben. Wie fantastisch und wunderschön doch alles war!
Am nächsten Morgen war er gut ausgeruht und setzte sich voll Vorfreude zum Frühstückstisch.
“Wie sehr ich mich auf meine erste Flugstunde freue, Kalle!” erklärte er seinem erstaunten Freund. “Das wird das größte Abenteuer, das ich je erlebt habe!” sagte Snorre, verschlang sein Käsebrot und hüpfte auch schon zur Tür hinaus. Kalle schüttelte verwundert den Kopf. Der Zaubertrank von Mette musste es wirklich ganz schön in sich haben, das hätte er nicht gedacht!
Er freute sich schon jetzt darauf, was sein Freund nach seiner ersten Flugstunde zu erzählen hatte.