Snorres erster Flug
Snorre hatte eine sehr erholsame Nacht hinter sich. Am Vorabend war er mit seinem Freund Kalle zusammen gesessen, hatte leckeren Grießbrei gegessen und einen etwas seltsam schmeckenden Tee getrunken. Der ihm aber ein warmes Gefühl im Bauch gemacht hatte.
Heute fühlte er sich wie neugeboren und voll Vorfreude auf die bevorstehende erste Flugstunde.
Dass er all das einem Zaubertrank zu verdanken hatte, wusste Snorre natürlich nicht. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, jemals Angst vor der Höhe oder vorm Fliegen gehabt zu haben. Und er hätte bestimmt jeden ausgelacht, der ihm so einen Unsinn erzählt hätte. Snorre und Flugangst – hah! Völlig unmöglich.
Snorre kam als erster Schüler beim Flugplatz an und begrüßte seinen Fluglehrer, Herrn Frosttanz.
“Na, Snorre, bist du schon aufgeregt?” fragte Herr Frosttanz, dem zu Ohren gekommen war, dass Snorre kein Freund von großen Höhen war.
“Ganz im Gegenteil! Ich kann es gar nicht mehr erwarten, mich endlich auf einen der Vögel zu schwingen und loszufliegen!” strahlte Snorre.
Erstaunt betrachtete Herr Frosttanz seinen Schüler, zuckte dann aber mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht und es war ein anderer Schüler, der unter Höhenangst litt.
Schon bald trudelten die anderen Flugschüler ein. Sie unterhielten sich aufgeregt, bis Herr Frosttanz einen lauten Pfiff machte und sie zur Ruhe bat. Der Unterricht konnte beginnen.
Zuerst lernten sie, wie man einen Vogel dazu brachte, auf seinen Rücken gelassen zu werden: Man musste sich vor den Vogel hinstellen, sich drei Mal im Kreis drehen, zwei Mal auf dem einen Bein hüpfen und zwei Mal auf dem anderen und sich dann ganz tief verbeugen. Das war das geheime Zeichen für die Vögel, dass dieser Wichtel die nötige Ausbildung zum Fliegen hatte und mitgenommen werden konnte.
Als nächstes musste man das Ziel, zu dem man wollte, erst flüstern, dann singen und dann schreien.
Hatte man all das gemacht, ließ einen der Vogel auf seinen Rücken klettern. Der Flugwichtel musste dann nur noch seinen Flughelm, seine Fliegerbrille und seine Flughandschuhe anziehen und sich gut bei den Federn festhalten. Dann konnte es schon losgehen.
Herr Frosttanz fragte: “Wer will es als erstes probieren?”
Lange musste er nicht auf eine Antwort warten, denn Snorre sprang sofort herbei und rief: “Ich, ich, ich!”
“Also gut, Snorre – bitte schön!”
Snorre näherte sich dem Vogel – es war eine kleine, schwarze Amsel – machte den lustigen Tanz, den Herr Frosttanz ihnen beigebracht hatte, und verbeugte sich tief.
Der Vogel schaute ihn interessiert an. Dann flüsterte Snorre: “Bring mich bitte zu Kalle!”, im Anschluss sang er: “zu Kalle bring mich bitte schnell, der Tag ist schon so schön und hell!” und dann schrie er noch: “Bring mich bitte zu Kalle!”
Der Vogel nickte leicht, Snorre zog sich seine Flugausrüstung an und schwang sich auf den Rücken des Vogels. “waaaah!” ein bisschen mulmig war ihm plötzlich schon, denn ganz stabil fühlte sich der Rücken des Vogels dann doch nicht an.
Doch genauso schnell, wie das ungute Gefühl gekommen war, verging es auch wieder.
Und dann ging es los, hoch in die Lüfte. Snorre hielt sich ganz gut fest bei den Federn. Er lachte vor Freude und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. So ein Gefühl hatte er noch nie gehabt. Es kribbelte in seinem Bauch, der Wind blies ihm ins Gesicht, eine freudige Aufregung breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Er flog! Ja, tatsächlich, er flog!
Nach ein paar Minuten kreiste der Vogel über Kalles Haus und startete mit der Landung.
Kalle war zufällig gerade im Garten, gemeinsam mit der Zaubertrankwichtelin Mette, die den starken Zaubertrank gegen Snorres Flugangst gebraut hatte.
“Hahaaaa, Kalle, sieh nur! Ich flieeeeegeeee!” rief Snorre ihm schon von Weitem zu.
Kalle kratzte sich am Kopf und sagte zu Mette: “Mette, bitte zwick mich mal, ich traue gerade meinen Augen nicht! Warte… autsch!! Doch nicht so fest! Okay, also träume ich wirklich nicht. Dein Trank hat Wunder gewirkt!”
“Pssst!” warnte Mette, denn Snorre setzte zur Landung an. Und natürlich sollte er von dem Gespräch nichts mitbekommen, weil sonst die Wirkung des Zaubertranks weg wäre.
“Hahaaa, das ist das Großartigste, das ich je gemacht habe, Kalle!” rief Snorre und umarmte seinen Freund.
Der Vogel sah ihn belustigt an und schien auf etwas zu warten.
“Ah, ich weiß schon!” meinte Mette und holte aus ihrer Schürze ein paar Sonnenblumenkerne, die der Vogel dankbar aus ihrer Hand pickte. Und dann hob er wieder ab, dieses Mal ohne Snorre, denn es warteten ja noch ganz viele andere Flugschüler auf ihre erste Flugstunde.
Kalle betrachtete den vor Freude strahlenden Snorre von der Seite und war sich ganz sicher: Sein Freund würde die Flugprüfung bestehen und schon bald bei der Familie in Italien die Vorweihnachtszeit verbringen.
“Kalle, ich kann meine Reise nach Italien gar nicht mehr erwarten!” jubelte Snorre.
Wie gut, dass es Mette und ihren Zaubertrank gibt!