Die flüsternde Schneeflocke
Maja blinzelt. Erst das eine Auge, dann das andere. Wie spät es wohl ist? Ganz egal! Heute ist ja Samstag. Schulfrei. Ein Lächeln breitet sich auf Majas Lippen aus und sie ist mit einem Schlag hellwach.
Schnell tapst sie zum Fenster. Gestern Abend, als sie sich zum Schlafen bereit gemacht hat, sind erste zarte Schneeflocken auf dem Boden gelandet. Sie ist ganz neugierig, wieviel Schnee in der Nacht wohl gefallen ist.
Übermütig reißt Maja die Vorhänge auf – und traut ihren Augen nicht. Eine wundervolle Winterlandschaft hat sich vor ihrem Fenster gebildet.
„Mama, Papa, es hat so viel geschneit! Ich muss gleich den Schlitten fertig machen! Und die Skier! Und die Schlittschuhe am besten auch noch gleich! Ich muss Freddo und Antje anrufen! Und zum Schlittenhang gehen! Und durch den Wald laufen!“ ruft sie und stolpert außer Atem in die Küche.
Mama muss schmunzeln. So aufgeregt ist das Wichtelmädchen nur, wenn der erste Schnee gefallen ist. „Ja, das musst du unbedingt! Aber zuerst trinkst du mal in Ruhe eine Tasse Kakao und isst ein leckeres Honigbrot dazu, was meinst du?“
„Ja, unbedingt! Und Sven muss ich auch noch aufwecken, der muss auf jeden Fall mitkommen!“ ruft Maja begeistert.
Doch Sven muss sie gar nicht mehr aufwecken – er kommt schon missmutig in die Küche getapst. „Nanu, was ist denn mit dir los?“ fragt Maja.
„Es hat geschneit“, sagt Sven, als würde das seine schlechte Laune erklären.
„Ja, genau, wie wunderbar!“ stimmt Maja ihm zu.
„Gar nicht wunderbar. Ich mag Schnee nicht. Viel zu kalt. Und zu weiß. Und stell dir nur vor, du bekommst einen Schneeball in die Haare geschossen und dann fließt der Schnee ganz gemein und eisig kalt so richtig langsam deinen Rücken runter. Brrr… nein, da bleib ich lieber hier drinnen!“ erklärt Sven.
„Spielverderber, nichts da! Du kommst schön mit!“ bestimmt Maja.
Sven grummelt sich durchs Frühstück und lässt sich auch danach noch schön bitten, mitzukommen. Aber ganz alleine mag er dann doch nicht zuhause bleiben. Auch er will seine Freunde heute sehen.
Die Geschwister gehen zur Tür hinaus und Sven schüttelt sich. Auch das noch – es schneit ja immer noch! Na toll, da wird sicher gleich seine Mütze ganz nass und weiß sein.
Maja scheint das überhaupt nicht zu stören. Sie flitzt mit einem lauten Lachen voraus, lässt sich einfach in den Schnee plumpsen und macht einen Schneeengel – mit ihrem ganzen Körper! Sven schüttelt den Kopf. Manchmal kann er seine Schwester wirklich nicht verstehen.
„Probier es doch auch aus! Das macht so großen Spaß, du wirst sehen!“ Verdutzt blickt sich der Wichteljunge um. Wer hat hier gesprochen? Maja gluckst immer noch vor sich hin, und ihre Stimme klingt außerdem ganz anders. Von ihr kann der Tipp also nicht kommen.
„He, du, ich bin’s!“ sagt die Stimme. „Häh? Werde ich jetzt verrückt?“ murmelt Sven.
„Nein, keine Sorge! Ich bin’s, die kleine Schneeflocke auf deiner Mütze. Lange habe ich nicht Zeit. Ich werde dir nämlich gleich auf die Nase tropfen, so, wie du es gar nicht so gerne hast. Und dann schmelze ich. Aber ich will dir nur sagen: Ich und meine Freunde, die anderen Schneeflocken, machen so gerne diese Winterlandschaft für euch Kinder. Wir kuscheln uns dazu ganz eng zusammen, damit ihr hier draußen spielen, Schlitten fahren und die wildesten Schneeballschlachten machen könnt. Wir bemühen uns so sehr. Mach doch mit, tu mir bitte diesen Gefallen. Du wirst viel Spaß haben!“ sagt die Stimme.
Sven kann es immer noch nicht glauben. Doch dann denkt er darüber nach – ja, die kleine Schneeflocke hat Recht. Es ist wirklich ein Wunder, dass es so etwas Schönes wie Schnee gibt. Da müssen ganz viele Schneeflocken zusammenhelfen. Sven vergisst alle seine Sorgen und läuft zu seiner Schwester, lässt sich in den Schnee fallen und erschafft seinen eigenen Schneeengel.
„Na bitte, es geht doch!“ hört er die Stimme zufrieden sagen – und dann tropft die kleine Schneeflocke auch schon auf seine Nase.
„Wie schön dein Schneeengel ist! Toll, dass du keine Angst mehr hast vorm Schnee!“ freut sich Maja.
„Ja, Schnee ist wirklich so schön, das hatte ich ganz vergessen,“ sagt Sven und nimmt sich vor, nie wieder über den Schnee zu schimpfen. Ab jetzt wird er jeden einzelnen Schneetag in vollen Zügen zu genießen. So, wie es sich die Schneeflocken wünschen.